Lieber Olaf,
besten Dank für Deine Einsendung mit der ich heute meine kleine Reihe “Time for Pictures” nach 7 Ausgaben beschließen werde. Mit Deinem Bild schließt sich ein kleiner Bogen, nicht nur, weil es die letzte Einsendung ist, der ich hier ein wenig Aufmerksamkeit zukommen lassen möchte, sondern weil wir auch ganz zu Anfang ein Kinderbild hatten, das dem Deinen auf den ersten Blick sehr ähnlich und dann doch wieder grundverschieden ist: Sowohl Dein Bild, als auch das von Nadine zeigen ein Kind, das im Freien im Wasser spielt. Und doch zeigen Eure Bilder, wie unterschiedlich man ein und dasselbe Thema bearbeiten kann. Und damit haben wir in der letzten Ausgabe von “TfP” nocheinmal ein wichtiges Thema zu fassen bekommen: Den eigenen Stil. Möglicherweise ist das das schwierigste Thema in der Fotografie. Blende, ISO und Verschlusszeit, das läßt sich alles lernen, ausprobieren und es gibt irgendwie auch ein “richtig” und ein “falsch”. Aber beim eigenen Stil gibt es keinen Maßstäbe. Alles geht, nichts muss und in diesem “Nichts” müssen wir als Fotografen unseren Ort finden, unseren Anker an der richtigen Stelle auswerfen, wo wir uns wohlfühlen. Und vielleicht lichten wir den Anker auch irgendwann wieder und fahren an einen anderen Ort, der besser zu uns passt. Oder wir irren unser ganzes Fotografenleben von Ort zu Ort, auf der Suche nach dem finalen Ankerplatz. Andere haben vielleicht das Glück, sofort Ihren Ort gefunden zu haben und holen ihren Anker nie wieder hoch. Heute ist vielleicht das größte Problem, dass man meint, seinen Platz gefunden zu haben und eines Morgens aufwacht, um festzustellen, dass in der eigenen lauschigen Bucht unzählige andere Fotografen festgemacht haben, die die ganze Schönheit der Bucht zunichte machen und einen wieder zum Weiterziehen zwingen, weil man in seiner Bucht alleine sein möchte. Ich habe das Gefühl, dass viele Buchten so überfüllt sind, weil Fotografen keinen Mut mehr zum Kurswechsel haben, nur dort segeln, wo alle segeln und meinen, nur dort gäbe es Schätze zu heben. Da gibt es die völlig überfüllten Vintage-Inseln, gleich draußen vor der Retro-Bucht: Alles rappelvoll. Auch an den einst so einsamen Pastell-Stränden findet sich heute kaum noch ein freies Fleckchen. Mein Credo (auch an mich selbst!) nach so vielen schönen Fotos: Segelt hinaus, seid Freibeuter und meidet die Rummelplätze im Fotografenmeer, sucht die einsamen Buchten, in denen noch niemand war, taucht tief und findet neue Dinge. Das Bildermeer ist groß und weit, es hat Platz für alle, solange wir uns nicht alle im Hauptstrom drängeln.
So, bevor das hier zum maritimen Gottesdienst wird, kommen wir zu Dir, Olaf!
Gestaltung
Dein Bild sagt: Bämm! Und das in vielerlei Hinsicht. Es bricht mit Regeln, es verweigert sich unseren Sehgewohnheiten und hat doch eine ganz klare Botschaft: Lebensfreude pur. (Oder wie wir hier im Norden als Hörer des NDR sagen würden: “Summerfeeling pur”) Das Gesicht des Kindes nimmt fast das ganze Bild ein, die starken Anschnitte an Kopf und Kinn nimmst Du in Kauf, trotzdem passt nur fast annhähernd die Hälfte des Gesichtes auf Dein Bild. Näher geht’s nicht, der Kontext fällt klein aus, ist aber durch das Grün eindeutig: Wiese, Busch, auf jeden Fall draußen, Sommer. Das Auge enthältst Du uns vor, ungewöhnlich für ein Porträt, aber die nasse (was ist die Steigerung von nass?) Haarsträhne verdeckt das Auge, sie wird fast zum beherrschenden Punkt im Bild, zumal sie auch noch im goldenen Schnitt liegt. Eigentlich hast Du eine Haarsträhne mit einem Kind dran fotografiert. Die andere Haarsträhne links liegt übrigens ebenso im goldenen Schnitt. Das Bild wirkt trotz des krassen Bildschnittes ausgewogen und harmonisch. Ich mag diese Reduktion, diesen engen (radikalen?) Bildschnitt. Neben der Perspektive halte ich übrigens den Bildschnitt für eines der einfachsten Möglichkeiten, der eigenen Kreativität auf die Sprünge zu helfen, probiert es mal aus…
Fotografisch
Dein Foto ist nicht scharf. Weder das Auge, noch die Haarsträhne noch die Haut. Aber das ist nicht schlimm, es schadet dem Bild nicht, denn es ist problemlos erkennbar, das letzte Quäntchen Schärfe würde ihm vielleicht gar nicht mal nutzen und würde mehr die Fetischisten befriedigen. Du hast mit einer langen Brennweite fotografiert, dadurch verschwimmt der grüne Hintergrund trotz Blende 5.0 zu einer einheitlichen Fläche. Ich lieber normalerweise ein schönes, erkennbares Bokeh als Gestaltungsmittel, aber hier würde mehr Struktur vielleicht vom Gesicht ablenken, insofern ist das konsequent. 1/80 sek. als Belichtungszeit ist angesichts der Brennweite vielleicht etwas lang, obwohl der Eindruck der Unschärfe in meinen Augen nicht aus Verwacklung resultiert, sondern eher aus einem klitzekleinen Fehlfokus oder gar einfach der Objektivqualität geschuldet ist. Wie gesagt, alles zusammen beeinträchtigt das alles das Bild überhaupt nicht. Im Gegenteil: Auch Schärfe wird von uns allen -glaube ich- überbewertet. Jeder Objektivtest fragt nach “knackscharf schon bei Offenblende?” und das natürlich am besten auch bis an die Ränder. Ich gebe zu, ich verfalle auch diesem Wahn, ich liebe den knackscharfen Look meiner Festbrennweiten bei Blende 1.4. Aber nutzt das meinen Bildern inhaltlich? Der bewußte Einsatz von Unschärfe würde mich vielleicht kreativ weiterbringen, als das ganze “knackscharf”-Gedöhns. Ich denke mal drüber nach. Ihr auch?
Inhalt
Ich sagte es schon: Summerfeeling pur. Sommer, Sonne, Wasser, Lebensfreude, alles drin in Deinem Bild. Und dann ist da -genau wie im Kinderbild von Nadine- noch dieses Kind und sein Gesichtsausdruck. Es schaut verträumt und fasziniert dem Wasser zu, das wie ein Strahl aus den eigenen Haaren läuft. Der entschlossene Mund läßt vermuten, dass es das gleich nochmal ausprobieren wird, um zu schauen, ob sich das Haar im Wasser wieder so schön V-förmig zu einem Strang formen wird. Du hast diesen kleinen Moment des Verwunderns erwischt, in dem das Kind in seinem Geplansche innehält, weil es etwas Neues oder Faszinierendes entdeckt hat. Eine neue Erkenntnis hat sich gerade in dem kleinen Hirn verankert, gleich wird es wieder losspielen, bis der Zufall ihm das nächste Naturgesetz vor die Füße wirft und es wieder kurz innehält, um auch dies zu verarbeiten. Eigentlich sehen wir in Deinem Bild ein Kind beim “Lernen”. Erkenntnis ist für Kinder immer und überall, die Trennung von Freizeit und Lernen ist eine Erfindung der Erwachsenen. Und damit hänge ich noch meine letzte Aufforderung an diesen etwas pastoralen Blogpost: Versucht, Euch der Fotografie wieder wie Kinder zu nähern. Lasst Euch ablenken und inspirieren, lernt beim Machen, statt aus Büchern oder im Internet. Brecht mit Regeln und entdeckt das Kind in Euch. Macht Fotoprojekte, wo das Ergebnis völlig egal ist, scheißt auf Schärfe und sucht Euch Euren fotografischen Traumstrand, wo ihr die Zehen in den Sand grabt und sagt: “Hier ist es richtig.”
Lieber Olaf, (und Anette, Nadine, Alexandra, Dagmar, Walter und Sebastian)
mit Kindern ging die Serie los, mit Kindern hat sie geendet! Vielen Dank, dass Du und Ihr alle mir die Gelegenheit gegeben habt, mir über Eure Bilder den Kopf zu zerbrechen. Wenn Ihr wüßtet, wie viel ich gelernt habe, würdet Ihr eine Workshop-Gebühr verlangen. Ich hoffe, ich bin Euren Bildern gerecht geworden und konnte das, was mich beim Betrachten bewegt und fasziniert hat, so in Worte fassen, dass für Euch Autoren und alle Leser ein Erkenntnisgewinn dabei herausgesprungen ist. Meine Vermutung, dass unsere Bilder zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, hat sich voll bestätigt: Jedes Eurer Bilder hat sich nach einigen Minuten anders verhalten, als zu Beginn, sie haben sich Schicht um Schicht geöffnet und ihre kleinen Geheimnisse hinausgelassen, so als wollten sie erst prüfen, ob ich es wirklich gut mit ihnen meine. Ich hab es versucht!
Dein und Euer Matthias!
Auf Eure sachlichen Kommentare freue ich mich und Teilen ist natürlich erwünscht…
Die anderen Beiträge der Serie findet Ihr hier:
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