Liebe Dagmar,
das erste Mal ein Bild “mit ohne Mensch” drauf. Vielen Dank für Deine Einsendung zu “Time for pictures”. Folgt einfach Dagmars Beispiel und schickt mir ebenfalls Eure Werke, alle Infos zu dem Projekt, soweit Sie sich noch nicht herumgesprochen haben, findet Ihr hier. Inzwischen haben sich auch die ersten Männer getraut, die Bilder liegen bei mir, ich freue mich, in den nächsten Wochen darüber zu berichten. Nun aber erstmal zu Deinem Bild, Dagmar.
Mein erster Gedanke war: Cool, sowas habe ich auch schon gemacht. Vermutlich entdeckt jeder von uns mal das Spiel mit draußen und drinnen, Spiegelungen, Glas und Scheiben. Auf meiner Festplatte ruht zumindest auch so etwas. Dein Bild ist im wahrsten Sinne des Wortes Street-Fotografie, offenbar aus München. Ich stelle mir vor, wie Du drinnen in einem Café saßest, froh, einen der wenigen Plätze am Fenster ergattert zu haben und genüßlich Deinen Kaffee oder Tee schlürftest. Und dann war da dieser Moment, in dem Du dachtest: “Mensch, das sieht irgendwie cool aus, da draußen und hier drinnen.” Das sind die Momente, in denen man sich darüber freut, eine kleine Kamera dabei zu haben. Solche Bilder entstehen nicht mit Riesenequipment, denn das liegt derweil zu Hause. Also ist Dein Bild für mich erstmal ein Plädoyer: “Nehmt gefälligst immer Eure Kameras mit!”
Gestaltung:
Wir sehen mit Dir aus dem Fenster eines Cafés oder eines anderen Gebäudes auf eine typische Einkaufsstraße in einem Wohnviertel. Kleine Läden für die “Nahversorgung”, wie es so schön heißt, Parkplätze (vermutlich viel zu wenige…) und angeschlossene Fahrräder veraten uns, dass dort viele Leute unterwegs sind und leben. Obwohl das Bild fast vollständig das “Draußen” zeigt, gibt es auch ein klar erkennbares “Drinnen”. Unten links erkennen wir den Übergang. Die runden Tische -zum Café gehörig-, aber eben draussen, markieren sozusagen den Übergang oder die Verbindung zwischen beiden “Welten”. Genauso die große Scheibe mit der prägnaten Reflexion im unteren Bereich. Sie trennt und verbindet gleichermaßen. Deswegen ist die Reflexion auch wichtig, denn sie macht die durchsichtige “unsichtbare” Scheibe sichtbar. Das Bild ist strukturiert durch die vielen parallelen Linien, die sich aus Fensterkante, Straße und die einheitliche Ladenzeile auf der anderen Straßenseite bilden. Vorder-, Mittel- und Hintergrund sind schön gestaffelt. Was mir erst nach längerem Betrachten auffiel, das dies auch durch die zunehmende Kompaktheit der Motive unterstützt wird. Vorne filigrane Fahrräder, dann flächigere Autos und hinten dann glatte Wände. Dies läßt das Auge sich langsam von vorne nach hinten “durcharbeiten”. Nicht ganz unwichtig ist eine Kleinigkeit für die schöne Bildwirkung: Die beiden dunklen Elemente ganz rechts und links an den Bildrändern: Sie lenken den Blick wie Scheuklappen in das Bild hinein, fokussieren tatsächlich auf die Straße.
Mein neugieriges Auge bleibt sofort -und vielleicht etwas zu lange- an den Beschriftungen hängen. Was ist eine “Hofpfisterei”, wann sind die genauen Parkzeiten und wo kommen die Autokennzeichen her? Und was ist das für ein Sanitärladen? Das ist immer das Gefährliche an Texten, Schilder etc. in Bildern. Vielleicht hätte man hier mit größerer Unschärfe arbeiten können? Auf der anderen Seite hast Du mit einer S90 von Canon fotografiert, für die “Schärfen(un-)tiefe” aufgrund des kleinen Senors vermutlich eher ein Fremdwort ist. Dafür hattest Du sie aber dabei. Das zählt.
Fotografisch:
Die Möglichkeit, mit Unschärfe zu arbeiten, sprach ich schon an, ansonsten ist dieses “Stilleben” auf der Straße natürlich ein dankbares Motiv: Ausreichend hell, nichts und niemand bewegt sich. Mit schwarz/weiß rennst Du bei mir und sicher auch vielen anderen immer offene Türen ein. Auffallend ist die Bearbeitung, für die Du Dich entschieden hast. Das starke Korn in dem Bild ist kein Rauschen, denn Du hast mit ISO 250 fotografiert, auch für eine Kompaktkamera sollte das kein Problem sein. “Echtes” Korn (soweit es das in der digitalen Fotografie geben kann), ist es auch nicht, das zeigt sich, wenn man in Dein Bild hineinzoomt. Unter dem Strich komme ich zu dem Ergebnis, dass es Artefakte sind, die beim (Über-) Schärfen entstehen, oder dass Du das Bild in der Bearbeitung deutlich nachbelichtet hast, weil es Dir zu dunkel schien. Letztlich kannst nur Du diese Frage beantworten. Obwohl ich Korn gerne mag und dies auch meinen Bildern häufig mitgebe, ist mir persönlich diese Art und Intensität etwas zu viel. Auf der einen Seite macht es das Bild aus und passt auch gut zu der Szenerie, die je auch etwas Verlassenes hat, andererseits bleibt der Blick -zumindest mein Blick- darin hängen. “Was ist das?” fragt sich mein Gehirn die ganze Zeit und diese Aufmerksamkeit fehlt dann dem Motiv. Unabhängig, woraus der Effekt entstanden ist, er ist Ergebnis der Bearbeitung und drängt die Bearbeitung in den Vordergrund und Motiv und Foto in den Hintergrund. Ich bin daher kein Freund starker oder verfremdender Bearbeitungen, wie sie ja leider aufgrund tausender Lightroom-Presets oder Photoshop-Aktionen überall zu sehen sind. Aber deswegen finde ich Dein Bild so passend, weil es genau um solche Fragen hier gehen soll. Also: was immer es ist, mir ist es ein wenig zu viel, auch wenn ich völlig bei Dir bin, dass das Bild etwas Korn und “analogen Touch” gut verträgt.
Inhalt:
Mir fällt sofort auf, dass Dein Bild menschenleer ist. Aber Menschen erzählen Geschichte, nicht umsonst ist in fast allen Bildern immer auch der Mensch zu sehen, wenn auch vielleicht nur als Dekoration oder am Rande, aber den Menschen drängt es zum Menschen. Mir fehlen die Menschen in Deinem Bild, mir fehlt die offensichtliche Geschichte. Das verweigert Dein Bild. Und man kommt ins Nachdenken: Wo sind die Menschen, denen Fahrräder und Autos gehören? Alles ist hier für Menschen gemacht: Platz zum Parken und auch gleich die Regeln dazu, Läden zum Einkaufen. Aber die Menschen sind fort. Man kann lange über diese Frage sinnieren. Dein Bild hat etwas Verlassenes. Und dann ist da doch dieser eine Mensch in der “Hofpfisterei”. Genau wie Du ist er hinter Glas, nur auf der anderen Seite. Sie oder er wartet vermutlich auf Kunden, muss arbeiten, während Du Deinen Kaffee trinkst. Jeder ist in seiner Welt, die leere Straße trennt mehr, als dass sie verbindet. Du merkst schon: Wenn man will -und ich will!- kann man anfangen, in Dein fast menschenleeres Bild eine Geschichte “hineinzusehen”.
Offensichtlicher ist aber für mich eine andere Geschichte, die ich fast noch spannender finde. Denn noch ein Mensch ist in dem Bild sichtbar: Du. Nicht, weil wir Dich sehen könnten, sondern wiel wir wissen, dass Du da bist. Du bist hinter der Kamera und machst das Foto. Und Du hast Dich entschlossen, die leere Straße zu fotografieren. Die vielleicht etwas melancholische Stimmung hat Dich offenbar angesprochen, vielleicht hast Du das Bild soger extra so gemacht, extra gewartet, bis keine Menschenseele zu sehen war. Das Bild verrät etwas über Dich und damit wird es spannend. Man sagt ja immer so leichthin, das Bild sagt mehr über den Fotografen (oder die Fotografin), als über den oder das Abgebildete. Vielleicht ist das ja auch hier so? Das weißt nur Du.
Liebe Dagmar,
Auch Dein Bild hat mich mehr als 15 Minuten beschäftigt. Und es waren kurzweilige Minuten, danke dafür. Ich freue mich, dass immer mehr von uns mir ihre Bilder schicken, auch wenn es gerne noch mehr sein können. Ich lerne an jedem Foto und hoffe, Ihr habt auch ein paar aufschlußreiche Minuten. Nächste Woche wird es deutlich bunter. Das kann ich Euch schon versprechen!
Dein Matthias
Auf Eure sachlichen Kommentare freue ich mich und Teilen ist natürlich erwünscht…
Die anderen Beiträge der Serie findet Ihr hier:
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